|
Seit 1983
kann man dank der Zusammenarbeit der Kirchenvorstände von zwei der ältesten Kirchen am rechten Niederrhein
im nördlichen Seitenchor der spät-ottonisch-salischen Martinikirche zu Emmerich eine sehr
beachtliche Sammlung von Reliquiaren und liturgischen Geräten des hohen und späten Mittelalters sehen. Durch diese
Zusammenarbeit sind die Schätze zweier Kirchen vereinigt, die - so verschieden sie auch sind -
in ihrer Geschichte viele Berührungspunkte gehabt haben, sowohl im Hinblick auf die Ereignisse
als auch auf Personen.
Die
Geschichte des Schatzes von St. Martini
Schon von sehr frühen Zeiten an spielt der Reichtum der Ausstattung von Kirche und
Liturgie eine große Rolle in der christlichen Religion. Einmal, weil man Gott das
Schönste geben wollte, zum anderen, um die Bedeutung des eigenen
Kirchenbaues vor anderen zu betonen, haben Geistlichkeit und Gläubige im Mittelalter darum
gewetteifert, ihre Kirche zur schönsten und reichsten zu machen. So gelangten die Kirchen in den
Besitz von auserlesenem Kultgerät, Paramenten, Bildwerken und Gemälden. Besonders bei Kirchen mit einem
großen Priesterkollegium war der Reichtum an Kelchen, Ziborien,
Weihrauchfässern, Kasein, Chormänteln usw. groß, so dass man von einem, in der Sakristei aufbewahrten „Schatz" sprechen konnte. Im Laufe
der Jahrhunderte ist dieser Besitz im Falle der Emmericher Kirche stark zurückgegangen: es ist nur noch sehr wenig
frühes kirchliches Kultgerät geblieben. Der traditionell mit dem
Namen des Heiligen Willibrord verbundene, spätromanische Kelch und ein gotisches silbernes Weihrauchfass sind die wichtigsten der noch vorhandenen,
für den liturgischen Gebrauch bestimmten
Gegenstände. Ein im Mittelalter viel mehr als Schatz geltender Besitz
waren jedoch die Anzahl und die Bedeutung der Reliquien und Erinnerungsstücke an Heilige oder an heilige Stätten. Der Bedarf an fassbaren Resten, die das Band zwischen
Himmel und Erde gleichsam sichtbar machten, war groß: kleine Fragmente aus Orten, die in
Christi Leben eine Rolle gespielt hatten, aber auch Reliquien von Heiligen, die
für ihren Glauben Zeugnis abgelegt hatten
und die nun als Fürsprecher für den sie anrufenden Menschen im Himmel weilten. Wie immer man
auch über diese, in der heutigen Glaubenserfahrung eher als Aberglaube
angesehene Verehrung denkt: von frühchristlicher Zeit an bis in unser Jahrhundert hat die
Reliquienverehrung einen sehr wesentlichen Aspekt des Katholizismus ausgemacht
und ist eine Inspirationsquelle für Äußerungen gewesen, die von wahrer Verehrung bis zu fast götzendienlicher Magie reichen. Orte, an
denen Apostel und Märtyrer begraben waren, wurden Mittelpunkte für Pilgerfahrten; solcher Ruhm strahlte
auch auf die Kirchen aus, die zwar kein Heiligengrab enthielten, aber dennoch
einen Schatz von kleinen Reliquien zeigen konnten. Das war auch in Emmerich der
Fall. Beim Neubau der Kirche im 11. Jahrhundert ließ man auch ein kostbares Reliquiar für den Reliquienschatz machen, der nach
der Überlieferung auf die Heiligtümer zurückging, die der Gründer des Stiftes, der hl. Willibrord, aus Rom mitgebracht hatte.
Diese sogenannte „Arche des Heiligen Willibrord" bildet auch heute noch immer
den Kern des Kirchenschatzes. Zusammen mit dem Schrein des hl. Viktors im
Xantener Dom, ist diese Arche das berühmteste und ehrwürdigste Reliquiar am Niederrhein. Im Laufe der Zeit vergrößerte sich der Reliquienbesitz der Kirche
und wuchs die Zahl der aus kostbaren Materialien verfertigten Reliquiare, in
denen sie aufbewahrt und an Festtagen den Gläubigen gezeigt wurden. Besonders im 15. Jahrhundert sind dem
Schatz einige sehr wichtige Stücke hinzugefügt worden, wie z. B. die silberne Muttergottesfigur und der
Kalvarienberg. Im 16. Jahrhundert wurde in Kriegszeiten ein großer Teil der Kostbarkeiten
eingeschmolzen. Seitdem wurde der Kirchenschatz zwar nicht mehr vergrößert, aber es gelang, ihn über alle Schicksale der Kirche hinweg
bis auf den heutigen Tag zu bewahren. Daneben aber wurde - vor allem im 19.
Jahrhundert - die Zahl der für den liturgischen Gebrauch bestimmten Gegenstände vermehrt. Die Pfarre St. Martini
hat als Rechtsnachfolgerin des 1811 aufgehobenen Stiftes den alten Besitz
an Reliquien und Liturgica behütet, gepflegt und seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts mit
vielen Erzeugnissen neugotischer, neuromanischer und moderner Goldschmiedekunst
sowie mit Paramenten bereichert.
Die Geschichte des Schatzes von St. Vitus
Im
Gegensatz zum Martinistift in Emmerich, das im städtischen Leben und als kirchliche Behörde eine große Rolle spielte, wenn auch die Kirche
nicht als Pfarrkirche für
die Bürgerschaft diente, war das Stift in
Elten eine sehr abgeschlossene Welt. Die Liturgie war nahezu ausschließlich für die Klosterinsassen selbst bestimmt.
Aber auch diese kleine Gemeinschaft brachte, ebenso wie in Emmerich, einen
zweigliedrigen „Schatz"
zusammen: Gerät
für
den kirchlichen Gebrauch und Reliquien. Trotz der vielen Bedrängnisse, denen das Stift unterworfen
gewesen ist, ist außerordentlich
viel davon erhalten geblieben. Schon früh,
seit dem
Ende des 19. Jahrhunderts, hatte der Kirchenschatz von Hochelten eine
gewisse Bekanntheit erlangt und galt nach dem von Xanten als
der größte
am Niederrhein. Der Schatz hat eigentlich nur einen großen Verlust erlitten: Nach der Aufhebung
des Stiftes 1811 wurde dieser einige Jahre von ehemaligen Stiftsinsassen
verborgen gehalten und kam nach dem Abzug der Franzosen in die Kirche zurück. Ein Reliquiar geriet damals in
Privatbesitz, und zwar das älteste,
ein mehr als einen halben Meter hohes, farbig emailliertes und mit Elfenbein
verziertes Reliquiar in Form einer Kuppelkirche, das heute eines der Hauptwerke
in der Sammlung kirchlicher Goldschmiedekunst im Victoria & Albert Museum
in London
bildet. Sonst scheint nur wenig verschwunden zu sein. Der Schatz umfasst
eine große
Zahl von Reliquiaren in vielerlei Formen und Materialien, von denen der größte Teil aus der Zeit zwischen 1300 und
1450 stammt. Alle, oder fast alle, sind von Angehörigen der Stiftsgemeinschaft der Kirche
geschenkt worden, wie dies häufig
aus Wappen oder Inschriften hervorgeht, die an den Gegenständen angebracht sind. Außerordentlich groß ist im Eltener
Schatz die Zahl der Reliquiare, bei denen zur Bereicherung des Edelmetalls auch
exotische Materialien verwendet wurden: in drei Objekten sind Fläschchen aus bearbeitetem orientalischem
Kristall aus der
Zeit um das Jahr 1000 enthalten, ferner sind eine kostbare Perlmuttermuschel
und ein Wisenthorn zu Reliquiaren verarbeitet worden. Der Schatz von St.
Vitus hat den Zweiten Weltkrieg leider nicht unversehrt überdauert: zwei Reliquienmonstranzen
aus der Zeit um 1400 sind spurlos verschwunden.